Der Klimacamp-Blog (84): Mythos Überbevölkerung

Können wir für alle Menschen ein gutes Leben innerhalb planetarer Grenzen organisieren? Das gehe schon deswegen nicht, argumentieren manche, weil es zu viele Menschen gebe. Aber stimmt das? Im ersten Teil einer kurzen Serie zum Thema „Überbevölkerung“ beschäftigen wir uns mit der Frage, wer eigentlich wie (und auf wessen Kosten) auf dieser Erde lebt.

„Auf der Erde leben zu viele Menschen.” Diesen Satz hört man im Umweltschutzkontext häufig. Sowohl von engagierten Klimaschützer:innen als auch von dubiosen, ölfinanzierten Pseudowissenschaftler:innen, die die Klimakrise oder ihre Folgen leugnen. Auf den ersten Blick erscheint diese These auch recht einfach und einleuchtend. Man nehme eine der vielen Grafiken, die die großen Trends seit dem 18. Jahrhundert aufzeichnen und erkennt ein eindeutiges Bild: Seit etwa 1750 wächst die Bevölkerung exponentiell an und zeitgleichen steigen, ebenfalls exponentiell, die Treibhausgasemissionen, alle anderen Indikatoren für Umweltverschmutzung und das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Ergo, zu viele Menschen stoßen die vielen Treibhausgase aus. Und dementsprechend der Umkehrschluss: Wollen wir die Treibhausgas reduzieren, dann müssen wir weniger Menschen auf dem Planeten werden. Soweit die Idee. Tatsächlich ist die Geschichte aber deutlich komplizierter und die Schlüsse, die man daraus ziehen kann, deutlich andere.

Man sieht recht einfach, dass das Argument, demzufolge die vermeintliche Überbevölkerung die Klimakrise verursacht hat, falsch ist, wenn man sich anschaut, wer eigentlich wie viel CO2 ausstößt. Dann sieht man, dass das reichste Prozent der Bevölkerung 17 Prozent aller CO2– Emissionen verursachen und die reichsten 10 Prozent für die Hälfte aller jährlichen CO2-Emissionen verantwortlich sind. Die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung stößt hingegen lediglich 12 Prozent aller CO2-Emissionen aus, also weniger als das reichste Prozent. Überbevölkerung als Klimakrisentreiber? Wohl eher Fehlanzeige. Stattdessen ist der große Krisentreiber der Überkonsum weniger sehr reicher Menschen.

Ähnliche Bilder ergeben sich für andere Umweltzerstörungsindikatoren wie den Ressourcen- oder Energieverbrauch.

Unser Lebenstil für alle?

Viele gehen in der Überbevölkerungsargumentation noch einen Schritt weiter in die Zukunft, indem sie behaupten, dass das Problem der Überbevölkerung sich in dem Bestreben der ärmeren Menschen niederschlage, die versuchen, unseren westlichen reichen Lebensstandard zu erreichen. Zuerst einmal muss man sagen, dass „unser“ Lebensstandard eine problematische Verallgemeinerung ist. So ist beispielsweise ie ärmeren Hälfte der europäischen Bevölkerung für rund 5 Tonnen CO2 pro Jahr und Kopf verantwortlich, während die reichsten zehn Prozent mit durchschnittlich 30 Tonnen pro Jahr bereits sechs mal so stark die Klimakrise antreiben.

Doch akzeptieren wir für einen Moment diese grobe Verallgemeinerung. Dann bleibt als nächster methodischer Fehlschluss die Annahme, dass „unser“ Ressourcen- und Energieverbrauch konstant bleibt, während die ärmere Hälfte der Bevölkerung aufholt. Im momentanen Wirtschaftssystem wäre das ein eher unwahrscheinliches Szenario, da der globale Norden (USA, Kanada, Europa, Israel, Südkorea, Australien, Japan, Neuseeland, Hongkong, und einige Inseln) auf Kosten des globalen Südens wächst. Seit Europa ab dem Ende des 15. Jahrhundert begonnen hat, die Welt zu kolonialisieren, ist der größte Teil des globalen Südens wirtschaftlich eher der Dienstleister der frühen Industriestaaten; er dient dem globalen Norden als Absatzmärkte und Quellen für Rohstoffe, die ausgebeutet werden, damit der westliche Kapitalismus sich erneuern und entwickeln kann, wie es Noam Chomsky in „Media Control“ ausdrückt (siehe Lars Schoultz, „Human Rights and United States Policy toward Latin America“, Princeton, 1981, S.7).

Diese ehemals kolonialen Abhängigkeiten bestehen heutzutage weitgehend fort. Jason Hickel bezifferte in einer kürzlich erschienen Studie den Wert dieser ungleichen Handelsbeziehungen auf 10 Billiarden US-Dollar pro Jahr. Anders ausgedrückt gewinnt der globale Norden durch diese Handelsbeziehungen ca. 25 Prozent seines BIPs. Diese ungleichen Handelsbeziehungen sind wichtig um zu verstehen, warum es unwahrscheinlich wirkt, dass wir im momentanen weltweiten Wirtschaftssystem für alle Menschen auf dem Planeten ein gutes Leben innerhalb planetarer Grenzen ermöglichen können.

Gutes Leben in planetaren Grenzen

Wenn der globale Süden in den momentanen Abhängigkeitsverhältnissen also unseren Lebensstandard erreichen würde, dann wohl eher in einem Zukunftsszenario, in dem der durchschnittliche Energie- und Ressourcenverbrauch des globalen Nordens in ganz anderen Dimensionen liegt. Mit den Ergebnissen der Entkopplungsstudien im Hinterkopf, die uns sagen, dass eine absolute Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum nicht möglich ist, ist klar: Dieses ferne Zukunftsszenario wird nie eintreten, denn vorher wird ein großer ökologischer Zusammenbruch der Welt den Großteil der Menschheit auslöschen.

Zu einem fundierteren Ergebnis kommen Julia Steinberger und andere, die im „Living Well Within Limits“ Projekt („Gutes Leben innerhalb Grenzen“) untersuchten, wie nahezu alle Länder der Welt darin abschneiden, ein gutes Leben für die Bevölkerung innerhalb der planetaren Grenzen zu ermöglichen. Dazu definieren sie elf soziale Parameter – von Ernährung über Bildung, sozialer Teilhabe bis hin zu Lebenszufriedenheit – und messen, wie viele planetare Grenzen die jeweiligen Länder jeweils überschreiten, heruntergebrochen auf die jeweiligen Staaten und wie viele soziale Parameter sie erreichen.

Das Ergebnis ist erst einmal ernüchternd. Viele klassische Industriestaaten wie zum Beispiel Deutschland erreichen recht hohe Werte in sozialen Parametern, überschreiten dafür aber alle planetaren Grenzen. Im Gegenzug gibt es andere Länder wie etwa Bangladesch, die zwar keine planetaren Grenzen überschreiten, dafür aber auch nur einen sehr schlechten sozialen Output haben. Die Gegend, in der wir uns befinden müssten – hoher sozialer Output, ohne planetare Grenzen zu überschreiten – ist sehr leer.

Auch wenn dieses Ergebnis sehr bedauerlich ist: Es war – angesichts der erfolgreichen Versuche der letzten Jahrhunderte, nahezu alle Länder der Welt in ein einziges kapitalistisches Weltwirtschaftssystem zu zwängen – erwartbar.

Bei genauerem Hinsehen geben uns diese Daten jedoch auch etwas Hoffnung und zeigen einen Weg, wie es gelingen kann, tatsächlich für alle Menschen auf der Welt ein gutes Leben zu ermöglichen. Denn in der Liste der Staatengruppen gibt es zwischen den klassischen Industriestaaten, die hohen sozialen Output durch Überschreiten aller planetarer Grenzen und Ausbeutung des globalen Südens erreichen, und den ausgebeuteten Staaten des globalen Südens noch eine dritte Kategorie, der es gelungen ist, einen Mittelweg einzuschlagen.

 

Diese Staaten wie zum Beispiel Costa Rica, Tunesien oder Sri Lanka überschreiten einige planetaren Grenzen nur geringfügig und gleichzeitig fehlt häufig nicht mehr viel Verbesserung, um für alle Menschen der Bevölkerung ein gutes Leben zu ermöglichen. In der Regel wird angenommen, dass es lediglich durch Umverteilung und ohne jegliches weiteres Wirtschaftswachstum möglich sein sollte, alle sozialen Indikatoren zu erreichen, ohne den ökologischen Fußabdruck weiter zu vergrößern.

Würde man diese Länder als Vorbild nehmen, dann ergäbe sich daraus, dass reiche Industriestaaten ihre Wirtschaftsleistung in etwa halbieren müssten, um auf einem Wirtschaftsniveau herauszukommen, das es sowohl allen Menschen auf der Welt ermöglichen könnte, ein gutes Leben zu führen – und innerhalb planetarer Grenzen zu bleiben. Diese Ergebnisse sind allerdings mit etwas Vorsicht zu genießen, da sie sehr stark davon abhängen, wie im einzelnen Versorgungssysteme wie Bildung oder Krankenversorgung organisiert sind, und vor allem, wie stark es gelingen wird, bestehenden Reichtum umzuverteilen.

Fassen wir also zusammen:

  • Der große Treiber der Umweltzerstörung ist nicht die Anzahl an Menschen auf dem Planeten, sondern der Überkonsum weniger. Das reichste Prozent stößt mehr Treibhausgase aus, als die ärmere Hälfte der Bevölkerung.
  • Im momentanen Wirtschaftssystem ist es nicht möglich, für alle Menschen auf der Erde ein gutes Leben zu ermöglichen.
  • In einem anderen Wirtschaftssystem wäre es aber durchaus möglich. Das setzt aber eine Umverteilung von Reichtum voraus und eine Reduktion der Wirtschaftsleistung in wohlhabenden Ländern.

Text: Manuel Oestringer von der Konstanzer Klimacamp-Redaktion
Bild (Straßenszene in Afghanistan): Pixabay. 
Grafiken: Von der Klimacamp-Redaktion zur Verfügung gestellt.

Der zweite Teil erscheint am Freitag.

Die Klimacamp-Blogs werden von Aktivist:innen des Konstanzer Camps verfasst. Sie entscheiden autonom über die Beiträge. Bisher sind auf seemoz.de erschienen:

(83) Second Hand ist erste Wahl
(82) Klimastreik: Noch ist es nicht zu spät
(81) Es brennt
(80) Weder Kinderkram noch Grüne RAF
(79) Gefährliche Eingriffe?
(78) Die Hoffnung stirbt, die Aktion beginnt
(77) Harakiri oder Amoklauf?
(76) Mehr Gas beim Klimaschutz, weniger in der Leitung
(75) Motorboot fährt Klima tot
(74) Es geht weiter!
(73) (K)ein Grund zu feiern
(72) Ein Jahr Klimacamp
(71) Große Hektik, wenig Zukunft
(70) Klimaschutz als kommunale Pflichtaufgabe?
(69) Warm- oder Kaltbaden? Ein Dilemma
(68) Der klimaneutrale Weinhändler
(67) Was der Deutschlandfunk berichtet
(66) Weniger ist mehr
(65) Können Klimabewegungen und Gewerkschaften zusammen Ziele erreichen?
(64) Zwei Stunden pro Woche für das Camp!
(63) Was will die „letzte Generation“?
(62) CETA oder Klima
(61) Klima-Bahn oder Betonbahn?
(60) Gasausstieg in Konstanz – ein Übersichtsartikel
(59) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil III
(58) Atomstrom ist keine Lösung
(57) Orchideen und die Klimakrise
(56) Wer ist „wir“?
(55) Aufstand der letzten Generation – auch in Konstanz
(54) Klimadebatte in Konstanz: Fakten oder Meinung?
(53) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil II
(52) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil I
(51) Rückblick auf den globalen Klimastreik, Teil II
(50) Rückblick auf den globalen Klimastreik, Teil I
(49) Frieden, Gerechtigkeit und die Klimakrise
(48) Ein Gedicht zum Klimastreik
(47) Hoffnung!
(46) Raus aus dem Anti-Klimavertrag!
(45) Vorbereiten auf den 25. März
(44) Friedensprojekt Energiewende
(43) Was ist rechtens? Und was richtig?
(42) Die Planetare Grenze für Chemikalien ist überschritten
(41) Energiecharta – der schmutzige Vertrag
(40) 200 Tage Klimacamp
(39) Dies ist ein Notfall. Das ist ein Aufstand
(38) Grünes Wachstum? Weniger ist mehr!
(37) Die Sache mit dem grünen Wachstum
(36) Dreimal das erste Mal
(35) Auch der Bürgermeister zweifelt
(34) Wenn der Frühling im Januar beginnt
(33) Aufstand der letzten Generation
(32) Planetare Grenzen
(31) Über die Notwendigkeit von Klimagerechtigkeit
(30) Warum nicht in aller Munde?
(29) Tag 134 – und weiter geht’s!
(28) Was wir jetzt am dringendsten brauchen
(27) Es gibt kein Weihnachten auf einem toten Planeten
(26) Wenn alles kippt
(25) Besuch im Camp
(24) Ein Konstanzer Traum
(23) Mit der geplanten Erdgas-Pipeline zurück ins fossile Mittelalter
(22) Die Kirche und das Camp
(21) Winter im Camp – wir brauchen Unterstützung!
(20) Die Konstanzer Klimaschutzstrategie
(19) Diese Woche? Klimawoche!
(18) Hambi 2.0 – der Kampf um Lützerath
(17) Hundert Tage – Party oder Trauerfeier?
(16) Was passiert, wenn wir die 1,5 Grad-Grenze überschreiten?
(15) Ein Plädoyer für Offenheit
(14) Was kostet Anwohnerparken?
(13) Wie, Konstanz, hältst du’s mit dem Gas?
(12) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 2)
(11) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 1)
(10) Eine Nacht im Klimacamp
(9) Sind individuelle Lösungen ein wirksames Mittel? Eine Gegenüberstellung
(8) Ein Tag im Camp
(7) Demo- und Wahlrückblick
(6) Nach der Wahl: Das muss jetzt passieren
(5) Zwischen Verzweiflung und Hoffnung
(4) Klimastreik vor der Wahl
(3) Eine lange Radtour
(2) Kaum Fortschritte beim Klimaschutzbericht
(1) Warum Fridays nicht mehr reicht