Der Klimacamp-Blog (85): Mythos Überbevölkerung, Teil 2
Im Klimacamp-Blog 84 vom Dienstag stand die Frage im Mittelpunkt, ob – wie oft behauptet – das Wachstum der Weltbevölkerung alle Anstrengungen für mehr Klimaschutz zunichte macht. In diesem Blog fragen wir uns, wie weit die Bevölkerung eigentlich zunehmen darf und woher die These von der Überbevölkerung kommt.
Die unterschiedlichen Szenarien des Weltklimarats IPCC enthalten auch verschiedene Bevölkerungsmodelle. Ihnen liegt die Überlegung zugrunde, dass das Bevölkerungswachstum , davon abhängt, wie hoch das Bildungsniveau ist. In jenen Szenarien, die eine hohe Bildung annehmen, bleibt die Weltbevölkerung unter zehn Milliarden Menschen; nur in einem Szenario, das von einer niedrigen Bildung ausgeht, wächst die Bevölkerung auch im restlichen Jahrhundert weiter und überschreitet im Jahr 2100 zwölf Milliarden Menschen.
Welche Landwirtschaft brauchen wir?
Momentan leben acht Milliarden Menschen auf der Erde und etwa zehn Prozent davon leiden akut an unger. Allerdings überschreitet die Landwirtschaft, wie sie momentan betrieben wird, einige planetare Grenzen und ist ein großer Treiber der weltweiten Umweltzerstörung. Würde man die Landwirtschaft, wie sie momentan strukturiert ist, nicht verändern, sondern nur soweit reduzieren, dass sie innerhalb planetarer Grenzen existiert, dann wäre es lediglich möglich, 3,4 Milliarden Menschen zu ernähren.
Das zeigt aber nur, dass unsere derzeitige Agrarökonomie nicht nachhaltig ist. Andere landwirtschaftliche Methoden existieren. Wenn diese umgesetzt würden – verbunden mit einer veränderten Ernährung (mehr pflanzlich) und besseren Verteilungssystemen, um Lebensmittelverschwendung zu reduzieren – könnten etwa zehn Milliarden Menschen innerhalb planetarer Grenzen ernährt werden. Nur bei solchen Szenarien jedoch, die von erstarkten Nationalismen, Ressourcenkämpfen, mangelnder internationaler Kooperation, einem Kollaps der Ökosysteme und/oder Business as usual ausgehen, wäre das nicht möglich.
Ob es uns gelingen wird, in Zukunft ein gutes Leben für alle Menschen auf der Erde ermöglichen, hängt von vielen Faktoren ab. In erster Linie von der Frage, inwieweit wir bestehenden Reichtum umverteilen und ein Wirtschaftssystem schaffen können, das nicht auf Wachstum beruht. Bildung, Teilhabe und der Zugang zu Hygiene und Energie sind wichtige Teile beim Versuch, dieses andere Wirtschaftssystem zu bauen. Dieselben Teile sorgen auch dafür, das Wachstum der Weltbevölkerung zu verlangsamen, was es erleichtern wird, für alle Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen.
Die Armen über Bord werfen
Historisch gesehen wurde das Argument der „Überbevölkerung“ meistens vorgebracht, um von extremer Reichtumskonzentration abzulenken. Bereits 1789 prophezeite der britische Pfarrer und Ökonom Thomas Malthus, dass das exponentielle Bevölkerungswachstum zu Hungersnöten, Kriegen und Verarmung führen wird. Anstatt sich aber einer tieferen Analyse der Hungersnöte hinzugeben und festzustellen, dass die Bauern genug Essen produzierten, es ihnen nur von einer reichen Obrigkeit weggenommen wurde, forderte er mehr Enthaltsamkeit und ein Ende der Armenhilfe. Eine Forderung, die im adligen Establishment wohlwollend angenommen wurde. Um die Überbevölkerung einzuschränken und Arme davon abzuhalten, sich fortzupflanzen, wurde 1834 in England die 200 Jahre zuvor eingeführte Armenhilfe stark zusammengekürzt und arme Menschen zur Zwangsarbeit in sogenannte Armenhäuser gesteckt.
Auch unter Ökolog:innen gibt es ähnliche Thesen. Beispielsweise von Garetth Hardin, der 1968 in einem leider sehr bekannt gewordenen Aufsatz („The Tragedy of the Commons“) den Kurzschluss zog, dass gegen die Überbevölkerung vorgegangen werden müsse, damit die Menschheit auf der Welt überleben kann. Hardin schrieb im selben Essay, dass wir „um der Liebe zur Wahrheit willen öffentlich die (Prinzipien der) Allgemeine(n) Erklärung der Menschenrechte aufgeben müssen“. Und schlug in einem späteren Essay vor, arme Menschen „über Bord zu werfen“, damit der Rest überleben kann.
Mit anderen Worten: Vor ca. 500 Jahren begann eine kleine Minderheit, nahezu die gesamte Welt zu erobern und zu unterdrücken. Es war (und ist) ein Projekt, das neben Armut auch über zehn Prozent aller Arten an den Rand der Auslöschung gebracht hat und in wenigen Jahrzehnten die Lebensgrundlage für einen großen Teil aller Lebensform auf dem Planeten vernichtet haben wird. Dieselbe Minderheit, die dieses Projekt vor Jahrhunderten startete, ist auch heute noch hauptverantwortlich für die weiter fortschreitende Zerstörung – sowohl im Hinblick auf die direkten Energie-, Emissions- und Ressourcenverbräuche als auch im Hinblick auf ihre treibende Stellung im System.
Doch anstatt diese Tatsachen zu berücksichtigen und sich der Frage zu stellen, ob und wie wir die Situation noch retten können, versucht man, mit der Frage nach der Überbevölkerung die Verantwortung den ausgebeuteten, am wenigsten verantwortlichen Mitgliedern zuzuschieben und den Boden für die nächste Eskalationsstufe zu bereiten – dann nämlich, wenn viele Ökosysteme zusammenzubrechen beginnen und die Erde tatsächlich nicht mehr alle Menschen beherbergen kann.
Darum ist die These von der vermeintlichen Überbevölkerung nicht nur nicht hilfreich, sondern sehr gefährlich.
Text: Manuel Oestringer von der Konstanzer Klimacamp-Redaktion
Bild (zu viel Armut, zu viel Kapitalismus): Pixabay
Die Klimacamp-Blogs werden von Aktivist:innen des Konstanzer Camps verfasst. Sie entscheiden autonom über die Beiträge. Bisher sind auf seemoz.de erschienen:
(84) Mythos Überbevölkerung, Teil 1
(83) Second Hand ist erste Wahl
(82) Klimastreik: Noch ist es nicht zu spät
(81) Es brennt
(80) Weder Kinderkram noch Grüne RAF
(79) Gefährliche Eingriffe?
(78) Die Hoffnung stirbt, die Aktion beginnt
(77) Harakiri oder Amoklauf?
(76) Mehr Gas beim Klimaschutz, weniger in der Leitung
(75) Motorboot fährt Klima tot
(74) Es geht weiter!
(73) (K)ein Grund zu feiern
(72) Ein Jahr Klimacamp
(71) Große Hektik, wenig Zukunft
(70) Klimaschutz als kommunale Pflichtaufgabe?
(69) Warm- oder Kaltbaden? Ein Dilemma
(68) Der klimaneutrale Weinhändler
(67) Was der Deutschlandfunk berichtet
(66) Weniger ist mehr
(65) Können Klimabewegungen und Gewerkschaften zusammen Ziele erreichen?
(64) Zwei Stunden pro Woche für das Camp!
(63) Was will die „letzte Generation“?
(62) CETA oder Klima
(61) Klima-Bahn oder Betonbahn?
(60) Gasausstieg in Konstanz – ein Übersichtsartikel
(59) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil III
(58) Atomstrom ist keine Lösung
(57) Orchideen und die Klimakrise
(56) Wer ist „wir“?
(55) Aufstand der letzten Generation – auch in Konstanz
(54) Klimadebatte in Konstanz: Fakten oder Meinung?
(53) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil II
(52) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil I
(51) Rückblick auf den globalen Klimastreik, Teil II
(50) Rückblick auf den globalen Klimastreik, Teil I
(49) Frieden, Gerechtigkeit und die Klimakrise
(48) Ein Gedicht zum Klimastreik
(47) Hoffnung!
(46) Raus aus dem Anti-Klimavertrag!
(45) Vorbereiten auf den 25. März
(44) Friedensprojekt Energiewende
(43) Was ist rechtens? Und was richtig?
(42) Die Planetare Grenze für Chemikalien ist überschritten
(41) Energiecharta – der schmutzige Vertrag
(40) 200 Tage Klimacamp
(39) Dies ist ein Notfall. Das ist ein Aufstand
(38) Grünes Wachstum? Weniger ist mehr!
(37) Die Sache mit dem grünen Wachstum
(36) Dreimal das erste Mal
(35) Auch der Bürgermeister zweifelt
(34) Wenn der Frühling im Januar beginnt
(33) Aufstand der letzten Generation
(32) Planetare Grenzen
(31) Über die Notwendigkeit von Klimagerechtigkeit
(30) Warum nicht in aller Munde?
(29) Tag 134 – und weiter geht’s!
(28) Was wir jetzt am dringendsten brauchen
(27) Es gibt kein Weihnachten auf einem toten Planeten
(26) Wenn alles kippt
(25) Besuch im Camp
(24) Ein Konstanzer Traum
(23) Mit der geplanten Erdgas-Pipeline zurück ins fossile Mittelalter
(22) Die Kirche und das Camp
(21) Winter im Camp – wir brauchen Unterstützung!
(20) Die Konstanzer Klimaschutzstrategie
(19) Diese Woche? Klimawoche!
(18) Hambi 2.0 – der Kampf um Lützerath
(17) Hundert Tage – Party oder Trauerfeier?
(16) Was passiert, wenn wir die 1,5 Grad-Grenze überschreiten?
(15) Ein Plädoyer für Offenheit
(14) Was kostet Anwohnerparken?
(13) Wie, Konstanz, hältst du’s mit dem Gas?
(12) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 2)
(11) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 1)
(10) Eine Nacht im Klimacamp
(9) Sind individuelle Lösungen ein wirksames Mittel? Eine Gegenüberstellung
(8) Ein Tag im Camp
(7) Demo- und Wahlrückblick
(6) Nach der Wahl: Das muss jetzt passieren
(5) Zwischen Verzweiflung und Hoffnung
(4) Klimastreik vor der Wahl
(3) Eine lange Radtour
(2) Kaum Fortschritte beim Klimaschutzbericht
(1) Warum Fridays nicht mehr reicht
Soll vor allem der Homo Sapiens überleben? Deutschland ist das beste Beispiel dafür, was Überbevölkerung an Erdsystem-Zerstörung anrichtet. Wenn ein Wolf den Nationalpark verlässt, brauchen wir keine Jäger. Das „Problemtier Nr. Soundsoviel“ erledigt zuverlässig dichter Autoverkehr. Mitten in Europa kommen Bären aus den Karpaten in die Dörfer, um nach Nahrung zu suchen, weil illegal in Rumänien die letzten, eigentlich geschützten Urwälder abgeholzt werden. In Indien werden sie für Teeplantagen abgeholzt, in denen ehemalige Waldelefanten herumirren, die nirgendwo hinkönnen. In Indonesien fürs Palmöl, in Brasilien für Gold, Soja und Rindfleisch. Wie einst in Nigeria soll jetzt das Naturreservat Okavango-Delta in Namibia durch Ölbohrungen eines internationalen Konzerns vergiftet werden. Korruption, Gewalt und der Kampf um Ressourcen zerstören die Lebensgrundlagen lokaler Bauern. Aber Profiteure leben auch in diesen Ländern. Der Homo Sapiens sieht sich abgekoppelt vom Ökosystem und den anderen Lebewesen, dabei ist Wildnis „der Maschinenraum“ unserer Zivilisation. Zum Überleben brauchen wir viel mehr Wildnis. Ohne wird am Ende nur eine sehr kleine, abgehärtete Minderheit können, wenn überhaupt.
Da hoffe ich doch, dass die Gen-Technik der Menschheit zur Hilfe kommt!
Denn nur wenn die Menschen Generation für Generation kleiner werden, dann ist die Bevölkerungsexplosion wirklich kein Problem mehr!
Aber im Ernst: eine räumlich beschränkte Erde kann nur eine begrenzte Anzahl an Menschen tragen!
Und desto mehr Menschen ernährt werden (müssen) desto weniger Ressourcen für andere Lebewesen!