Der Klimacamp-Blog (39): Dies ist ein Notfall, das ist ein Aufstand
Seit Ende Januar haben mehrere Menschen begonnen, große Straßen für den Verkehr zu blockieren, um auf die Dringlichkeit der Klimakrise aufmerksam zu machen. Dazu setzen sie sich wieder und wieder mitten auf die Fahrbahn, Plakate und Banner in den Händen, auf denen groß das Motto: „Essen retten, Leben retten“ zu lesen ist. Meist dauert es nicht lange, bis jemand die Polizei alarmiert, die die Aktivist:innen von den Straßen trägt. Freiwillig weggehen kommt für die friedlichen Demonstrant:innen nicht in Frage.
„Ich sage ihnen, dass wir unsere Kinder in einen globalen Schulbus hineinschieben, der mit 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit tödlich verunglückt.“ Hans Joachim Schellnhuber, einer der renommiertesten Klimaforscher Deutschlands
„Wir sind die letzte Generation, die den totalen Klima- und Ökokollaps und die Hungerkatastrophe, die darauf folgen wird, noch aufhalten kann,“ sagt Noemi, eine junge Aktivistin Anfang 20, während sie mit einem großen Banner auf der Straße sitzt. Ihre blauen Augen blicken ernst in die Videokamera. Auf der anderen Seite stehen wütende, manchmal sogar gewaltbereite Autofahrer, die nicht verstehen wollen, warum sie nicht durchgelassen werden, freundlich lächelnde Passant:innen, die den Aktivist:innen „viel Erfolg!“ und „danke für euren Mut!“ zurufen und solche, die still und in sich gekehrt ins Zweifeln geraten: „Wer sind diese Menschen? Und was sehen die, das ich nicht sehe? Warum sind sie so alarmiert?“
Begonnen haben die Blockaden in Berlin; im Verlauf weniger Tage sind Aktivist:innen aus Hamburg, Frankfurt, Stuttgart, München und Freiburg mit eingestiegen. Sie nennen sich den „Aufstand der letzten Generation“, weil die Menschen, die heute leben, die letzten sein werden, die es noch in der Hand haben, den Klimawandel und weitere, für das Überleben der Menschheit zentrale Krisen zumindest einigermaßen zu begrenzen.
Ziel ist, die längst überfällige Kurswende in Sachen Klimaschutz einzuleiten – beginnend mit einer Agrarwende und einem Anti-Wegwerfgesetz für Supermärkte, um der völlig sinnlosen Verschwendung noch genießbarer Lebensmittel entgegen zu wirken. Denn was in der öffentlichen Debatte immer noch viel zu kurz kommt: nicht nur Verkehr, Industrie und Stromerzeugung, sondern auch Landwirtschaft, Bau und Beheizung von Gebäuden zählen zu den großen Emissionsquellen. So wird jede Minute eine ganze Lkw-Ladung noch genießbarer Lebensmittel weggeschmissen, während in Deutschland 1,6 Millionen Menschen auf Essen von der Tafel angewiesen sind. Das ist nicht nur sinnlose Verschwendung wertvoller Nahrungsmittel, die, statt sie wegzuschmeißen, direkt an Bedürftige weitergeben werden könnten, sondern verursacht darüber hinaus mit die unnötigsten Emissionen, die sich sehr schnell und einfach reduzieren lassen. Vorausgesetzt es gäbe endlich ein entsprechendes Gesetz, das das Wegwerfen guter Lebensmittel insbesondere für Supermärkte verbietet. Der beste Beweis dafür, dass solche Gesetze funktionieren, sind unsere Nachbarländer wie etwa Frankreich, die uns in solchen Fragen oft voraus sind.
100 Sekunden vor 12
„Die dringendste Frage von allen ist gerade: Wie können wir es schaffen, die Ernährung sicherzustellen? Wie können wir es schaffen, unsere Äckerböden im Angesicht der Klimakatastrophe zu erhalten?“ Diese Frage stellte die ehemalige Hungerstreikende Lea Bonasera beim Gespräch mit Olaf Scholz. Das sehen andere Aktivist:innen ebenso: Denn rund 30 Prozent aller Lebensmittel werden weggeworfen; etwa ein Viertel der landwirtschaftlichen Fläche in Deutschland produziert nur für die Tonne. Das ist deutlich zu viel.
Aber damit nicht genug. Die von Wissenschaftler:innen jährlich aktualisierte „Weltuntergangsuhr“, mit der die Wahrscheinlichkeit gemessen wird, wann sich die Menschheit selbst auslöscht hat, steht aktuell nur noch bei 100 Sekunden vor Mitternacht. Eben so klar ist, dass die Menschheit alles weiß und zur Verfügung hat, um diese selbstzerstörerischen Prozesse aufhalten und teilweise sogar umkehren zu können. Aus technischer und physikalischer Sicht, wäre alles kein Problem. Aber das Zeitfenster zum Handeln schließt sich rasant, und der dringend nötige gesellschaftliche Wandel ist leider noch nicht in Sicht. Trotz aller Versprechungen steigen die Emissionen Jahr um Jahr weiter. Laut führenden Wissenschaftler:innen werden die Aktionen der nächsten zwei bis vier Jahre maßgeblich über unser aller Schicksal entscheiden.
Und genau da liegt das Problem. Wenn wir nicht entschlossen und umgehend handeln, dann drohen schon in wenigen Jahrzehnten ernsthafte Nahrungsmittelengpässe auch hier in Europa. Spätestens 2050 werden die weltweiten Ernteerträge um ein Drittel einbrechen, während der Bedarf an Nahrung durch die weiter wachsende Bevölkerung um das Doppelte steigen wird (vorausgesetzt wir essen weiterhin so viel Fleisch und andere tierische Produkte). Katastrophale Hungersnöte, Kriege um Wasser und Essen, Flucht und Tod von Milliarden von Menschen sind dann unausweichlich. Es ist eine Zukunft, die eigentlich keiner wollen kann.
Auch wenn die neue Regierung in Deutschland im Vergleich zu ihnen Vorgängerinnen schon einiges auf den Weg gebracht hat, reichen die Maßnahmenpläne noch lange nicht aus, um den Kollaps abzuwenden. Trotz zahlreichen Demonstrationen von Fridays for Future und unzähligen Aktivist:innen, die sich in den letzten Jahren um Gespräche und Lösungen bemüht haben.
„Es passiert zu wenig. Es passiert zu spät.“
Aus diesem Grund fühlt sich eine steigende Anzahl an Menschen verpflichtet, Druck in Form friedlicher Straßenblockaden auf die Regierung auszuüben und die Öffentlichkeit über die extreme Dringlichkeit des Themas aufzuklären. Zusammen bilden sie den „Aufstand der letzten Generation“. Es sind Menschen, die bereit sind, notfalls den Hass der ganzen Republik auf sich zu ziehen, sich „Terroristen“ schimpfen zu lassen, Prügel aufgebrachter Autofahrer einzustecken, ihre Träume aufzugeben und so lange zu blockieren, bis die Regierung endlich mit den nötigen Maßnahmen reagiert oder sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses ins Gefängnis sperren lässt. Aber sobald sie frei sind, werden sie wieder kommen.
Die Entschlossenheit zeigt sich auch in den Äußerungen von älteren Aktiven in Videos, die mittlerweile im Netz zu finden sind. „Es macht uns keinen Spaß, hier zu sitzen“, sagt beispielsweise eine Aktivistin während einer Blockade, „und es tut mir so leid für die Leute, die jetzt warten und wütend sind und ich kann das total verstehen. Aber die Angst vor dem, auf was wir da zu rasen, ist einfach größer. Ich habe zwei Enkel und ich will, dass die Regierung endlich etwas tut, um sie zu beschützen und nicht nur redet und verspricht irgendwas zu beschließen. Es passiert zu wenig. Es passiert zu spät.“ Und ein 72-Jähriger ergänzt: „Ja, wir lassen uns wegtragen, wir lassen uns festnehmen, wir setzen uns der Wut der Autofahrer aus. Aber das ist kein Vergleich zu der Klimahölle, die uns erwartet“, sagt der ehemalige Maschinenbauingenieur. „Was hat überhaupt noch Bedeutung, wenn unsere Gesellschaft zusammenbricht wegen der Klimakatastrophe, die Dürren, Nahrungsmittelknappheit und Hunger mit sich bringt?“ Wenn die Regierung ihn wegsperren wolle, „weil ich darauf aufmerksam mache, dann soll sie das tun. Ich werde alles gewaltfrei Mögliche tun, um meine acht Enkelkinder zu schützen.“
Als erste Maßnahmen im Kampf gegen den Klimakollaps fordern Aktivist:innen ein Anti-Wegwerfgesetz für Supermärkte und eine Umstrukturierung hin zu klima- und naturfreundlicher Landwirtschaft, im besten Fall gekoppelt an bessere Bedingungen für Landwirt:innen als eine der wichtigsten Berufsgruppen unserer Gesellschaft. Denn ohne Essen sind wir nichts. „Ich finde das dermaßen respektlos – den Landwirten gegenüber, die das Essen produzieren, der Natur gegenüber, die uns alle am Leben erhält, den Menschen, die hier in Deutschland auf Lebensmittelspenden angewiesen sind, und den Menschen, die in anderen Teilen der Welt hungern müssen, weil wir ihr Land klauen, um darauf Essen für uns anzubauen, das wir dann wegschmeißen“, sagt eine Aktivistin von „Aufstand der letzten Generation“. „Und ich finde es extrem respektlos den jüngeren Menschen und vor allem den Kindern gegenüber, die später in der Welt leben müssen, die wir so erfolgreich ruiniert haben.“
Der Protest werde nicht so schnell enden, versichert die Jurastudentin Carla Hinrichs, Pressesprecherin der Aktion „Essen retten – Leben retten“: „Man kann eine Flut nicht einsperren, Geldstrafen nützen nichts gegen eine Hungersnot, ein Feuer ist mit polizeilichen Schmerzgriffen nicht zu löschen“, sagt sie. Man könne die einfachen Bürger:innen zwar inhaftieren, doch das ändere nichts daran, „dass das Leben unserer Kinder und aller künftigen Generationen auf dem Spiel steht“. Und eine 19-jährige Psychologiestudentin erläutert: „Es gab wiederholt Aufforderungen, die Blockaden zu unterlassen. Wir tun dies, wenn die Regierung ihrem Job nachkommt und auf den Bürgerrat hört.“ Ein Essen-Retten-Gesetz ließe sich so einfach umsetzen, „dass sich ganz Deutschland fragt, warum die Regierung das nicht tut und stattdessen die Blockaden weitergehen lässt“.
Dies ist ein Notfall. Das ist ein Aufstand. Der Aufstand der letzten Generation, die noch in der Lage ist, die Welt zu retten, wie wir sie kennen
Text: Eileen Blum von der Klimacamp-Redaktion
Bilder: Aufstand der letzten Generation (https://letztegeneration.de/presse/pressebilder/)
PS:
(1) Was auf uns zukommt, wenn wir nichts tun, zeigt ein Video der Wochenzeitung Die Zeit mit dem Klimaforscher Stefan Rahmstorf.
(2) Warum sich Henning Jeschke vergangenen Sommer am Hungerstreik beteiligte und warum wir jetzt handeln müssen, erläutert der Aktivist in einem Vortrag, der gefilmt wurde.
Der Klimacamp-Blog wird von Aktivist:innen des Konstanzer Camps verfasst. Sie entscheiden autonom über die Beiträge. Bisher sind auf seemoz.de erschienen:
(38) Grünes Wachstum? Weniger ist mehr!
(37) Die Sache mit dem grünen Wachstum
(36) Dreimal das erste Mal
(35) Auch der Bürgermeister zweifelt
(34) Wenn der Frühling im Januar beginnt
(33) Aufstand der letzten Generation
(32) Planetare Grenzen
(31) Über die Notwendigkeit von Klimagerechtigkeit
(30) Warum nicht in aller Munde?
(29) Tag 134 – und weiter geht’s!
(28) Was wir jetzt am dringendsten brauchen
(27) Es gibt kein Weihnachten auf einem toten Planeten
(26) Wenn alles kippt
(25) Besuch im Camp
(24) Ein Konstanzer Traum
(23) Mit der geplanten Erdgas-Pipeline zurück ins fossile Mittelalter
(22) Die Kirche und das Camp
(21) Winter im Camp – wir brauchen Unterstützung!
(20) Die Konstanzer Klimaschutzstrategie
(19) Diese Woche? Klimawoche!
(18) Hambi 2.0 – der Kampf um Lützerath
(17) Hundert Tage – Party oder Trauerfeier?
(16) Was passiert, wenn wir die 1,5 Grad-Grenze überschreiten?
(15) Ein Plädoyer für Offenheit
(14) Was kostet Anwohnerparken?
(13) Wie, Konstanz, hältst du’s mit dem Gas?
(12) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 2)
(11) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 1)
(10) Eine Nacht im Klimacamp
(9) Sind individuelle Lösungen ein wirksames Mittel? Eine Gegenüberstellung
(8) Ein Tag im Camp
(7) Demo- und Wahlrückblick
(6) Nach der Wahl: Das muss jetzt passieren
(5) Zwischen Verzweiflung und Hoffnung
(4) Klimastreik vor der Wahl
(3) Eine lange Radtour
(2) Kaum Fortschritte beim Klimaschutzbericht
(1) Warum Fridays nicht mehr reicht
Anarchisten und Kommunisten gaben bereits Antworten auf die Frage: „Warum geht es mir so dreckig?“ Warum gelten deutsche Gesetze nicht für ausländische, hier arbeitende oder sich anders prostituierende Menschen? Politiker verkünden täglich, dass man die wegen Corona erlassenen Gesetze unbedingt respektieren muss. Die Forderung zur Gesetzestreue endet dann aber auch schon bei Arbeits- und sonstigem Gesundheitsschutz.
Die Überproduktion beginnt neu auf überdüngten Feldern mit der Ausbeutung der Landarbeiter in den nächsten Monaten und es wäre gewiss sinnvoller Kooperativen zu begründen, die als Direktabnehmer bessere Arbeits- und Umweltbedingungen herbeiführen?
Die Äußerung von Verständnis zu dem mit Leidenschaft betriebenen Lebensmittel retten ist letztlich ein höchst willkommenes Angebot mit dem Grüne und Sozialdemokraten ihr soziales Gewissen beruhigen, wenn sie ihre Bereitschaft erklären, die Futtersuche in der Biotonnen tolerieren zu wollen. Die Eigentumsfrage muss dafür nicht gestellt werden. Insgesamt ist die Hoffnung weit verbreitet, die nächsten Wahlen erneut zu gewinnen, wenn an arme Menschen rechtzeitig Berechtigungsscheine zur Müllsammlung herausgegeben werden, weil Frieren, Inflation und Krieg letztlich doch zu Massenaufständen führen könnten.
Ich hätte hier die große Hoffnung, dass „Die Linke“ sich ihrer großen Vorgänger erinnert und vermehrt verständliche Marxismusschulungen anbietet. Bis dahin rege ich an, dass unsere hochbegabten Abiturienten und Hochschüler einmal nachfragen oder untersuchen, was denn da alles so drin ist in der Biotonne, neben einer noch gut aussehenden grünen Gurke?
Helfen könnte dabei das Portal „Lebensmittelwarnung“ wie auch der eine oder andere Keimabstrich sowie die Überlegung was da alles an „gesunden“ Lebensmitteln bleibt, zwischen dem ganzen pestizidbelasteten Obst und Gemüse, dem auf zweifelhafte Weise hergestellten „Normalfood“ von Nestlé oder anderen Konzernen, nachdem man denn die Zutatenliste genauer gelesen hat.
In den Biotonnen findet sich bestimmt ganz Vieles auf dessen Verzehr man tunlichst verzichten sollte, weil Produkte dabei sind, die aus verschiedensten Gründen aus dem Regal genommen und entsorgt werden mussten.
So, nun schaltet euer Smartphone auf ON und besucht:
https://www.lebensmittelwarnung.de/bvl-lmw-de/liste/alle/deutschlandweit/10/0 oder andere Foren.
Übrigens: Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gab es einen interessanten Zweiteiler: Kein Gott, kein Herr! Eine kleine Geschichte des Anarchismus.