Der Klimacamp-Blog (56): Wer ist „wir“?

Letzte Woche hat der CDU-Partei und -Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz in einem Interview mit der ARD-Hauptstadtjournalistin Tina Hassel den bemerkenswerten Satz gesagt: „Wir haben wahrscheinlich – jedenfalls für eine gewisse Zeit – den Höhepunkt unseres Wohlstandes hinter uns.“ Und weiter: „Wir werden auch das ein oder andere uns nicht mehr leisten können.“ Vermutlich ließen sich über diese Sätze und ihr politisches Kalkül ganze Arbeiten verfassen. Das spannendste an diesen beiden Sätzen ist aber die Frage: Wen meint Friedrich Merz eigentlich mit „wir“?

Meint Friedrich Merz mit „wir“ Millionäre wie sich selber, die lange Jahre bei den größten Firmen der Welt in Aufsichtsräten saßen und neben üppigen Gehaltszahlungen zahlreiche Aktien bei eben diesen Firmen halten? Dann verwundert diese Aussage, denn wenig deutet darauf hin, dass der Höhepunkt ihres Wohlstands hinter ihnen liegt. Tatsächlich schütten DAX-Konzerne momentan so hohe Dividenden aus wie noch nie. Da erscheint es in erster Linie nicht ersichtlich, warum sie sich manche Dinge nicht mehr leisten können.

Oder meint Friedrich Merz mit „wir“ Bundestagsabgeordnete wie sich selber? Das ist eine – verglichen mit Aufsichtsratssitzenden – fast von Armut bedrohte Spezies, aber bei einem Monatsgehalt von über 10.000 Euro ist auch hier nicht direkt ersichtlich, warum sich Bundestagsabgeordnete das ein oder andere nicht mehr leisten können sollen.

Redet Merz, wenn er „wir“ sagt, vielleicht die Gesamtheit der deutschen Bevölkerung? Das wäre etwas absurd, denn wenn die reichsten 36 Menschen im Land soviel besitzen wie die ärmere Hälfte, dann hat es hier sicherlich keinen Sinn, von einem homogenen „wir“ zu sprechen, das sich Dinge nicht mehr leisten kann. Vermutlich meint er mit „wir“ eher die ärmere Hälfte der Bevölkerung, doch dann wäre die spannende Frage, warum er, als Mitglied des reichsten Prozents der Bevölkerung, von „wir“ redet. Und warum er eigentlich den Menschen, die sich bereits einiges nicht mehr leisten können, erklären muss, dass „wir“ oder vielmehr sie, sich vieles nicht mehr leisten können. Wobei natürlich auch offen bleibt, was das eine oder andere eigentlich ist.

Auch in einer anderer Hinsicht bleibt vage, wer gemeint ist. Es geht um die Rede vom „menschengemachten“ Klimawandel. An für sich ist die Aussage, dass der Klimawandel menschengemacht ist, schon richtig. Doch man kann es auch etwas präzisieren. Historisch gesehen ist der globale Norden für 92 Prozent der CO2-Emissionen außerhalb der planetaren Grenze verantwortlich (siehe eine im September 2020 veröffentlichte Studie in „The Lancet“).

Und innerhalb des globalen Nordens, trägt wiederum vor allem die reichere Hälfte die Verantwortung für die hohen CO2-Emissionen. Dennoch spürt der globale Süden die Konsequenzen deutlich stärker. Nach dem neuesten IPCC-Bericht, werden aufgrund von Wassermangel in Afrika – einem Kontinent, der keine Verantwortung für das Überschreiten der planetaren Grenze trägt – bis 2030 sage und schreibe die Hälfte der gesamten Bevölkerung aufgrund von Wassermangel ihre Heimat verlieren. Hier vom menschengemachten Klimawandel zu reden, klingt eher wie eine Beleidigung als eine analytische Feststellung. Und in diesem Atemzug davon zu sprechen, dass Menschen den Klimawandel verursacht haben, ist ähnlich rücksichtsvoll, wie wenn Millionäre anderen Menschen am Existenzminimum erzählen, dass „wir“ uns Dinge nicht mehr leisten können.

Der Punkt der Geschichte: Es ist wichtig, sich im Klaren darüber zu sein, wer „wir“ eigentlich ist. Denn die Lösungen zur Klimakrise variieren erheblich, je nachdem für wen sie gedacht sind. Und meistens nutzen genau die Menschen, die am meisten dazu beigetragen haben, den Karren in den Dreck zu fahren, „wir“ als Ausrede um Maßnahmen zu entwerfen, die genau diejenigen treffen, die für die Situation am wenigsten können. Das ist auf der einen Seite extrem ungerecht. Und auf der anderen Seite, löst es das Problem auch rein gar nicht.

Text: Manuel Ostringer von der Konstanzer Klimacamp-Redaktion
Grafiken: Vom Klimacamp zur Verfügung gestellt. / Foto: Simon Law, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons

Der Klimacamp-Blog wird von Aktivist:innen des Konstanzer Camps verfasst. Sie entscheiden autonom über die Beiträge. Bisher sind auf seemoz.de erschienen:

(55) Aufstand der letzten Generation – auch in Konstanz
(54) Klimadebatte in Konstanz: Fakten oder Meinung?
(53) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil II
(52) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil I
(51) Rückblick auf den globalen Klimastreik, Teil II
(50) Rückblick auf den globalen Klimastreik, Teil I
(49) Frieden, Gerechtigkeit und die Klimakrise
(48) Ein Gedicht zum Klimastreik
(47) Hoffnung!
(46) Raus aus dem Anti-Klimavertrag!
(45) Vorbereiten auf den 25. März
(44) Friedensprojekt Energiewende
(43) Was ist rechtens? Und was richtig?
(42) Die Planetare Grenze für Chemikalien ist überschritten
(41) Energiecharta – der schmutzige Vertrag
(40) 200 Tage Klimacamp
(39) Dies ist ein Notfall. Das ist ein Aufstand
(38) Grünes Wachstum? Weniger ist mehr!
(37) Die Sache mit dem grünen Wachstum
(36) Dreimal das erste Mal
(35) Auch der Bürgermeister zweifelt
(34) Wenn der Frühling im Januar beginnt
(33) Aufstand der letzten Generation
(32) Planetare Grenzen
(31) Über die Notwendigkeit von Klimagerechtigkeit
(30) Warum nicht in aller Munde?
(29) Tag 134 – und weiter geht’s!
(28) Was wir jetzt am dringendsten brauchen
(27) Es gibt kein Weihnachten auf einem toten Planeten
(26) Wenn alles kippt
(25) Besuch im Camp
(24) Ein Konstanzer Traum
(23) Mit der geplanten Erdgas-Pipeline zurück ins fossile Mittelalter
(22) Die Kirche und das Camp
(21) Winter im Camp – wir brauchen Unterstützung!
(20) Die Konstanzer Klimaschutzstrategie
(19) Diese Woche? Klimawoche!
(18) Hambi 2.0 – der Kampf um Lützerath
(17) Hundert Tage – Party oder Trauerfeier?
(16) Was passiert, wenn wir die 1,5 Grad-Grenze überschreiten?
(15) Ein Plädoyer für Offenheit
(14) Was kostet Anwohnerparken?
(13) Wie, Konstanz, hältst du’s mit dem Gas?
(12) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 2)
(11) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 1)
(10) Eine Nacht im Klimacamp
(9) Sind individuelle Lösungen ein wirksames Mittel? Eine Gegenüberstellung
(8) Ein Tag im Camp
(7) Demo- und Wahlrückblick
(6) Nach der Wahl: Das muss jetzt passieren
(5) Zwischen Verzweiflung und Hoffnung
(4) Klimastreik vor der Wahl
(3) Eine lange Radtour
(2) Kaum Fortschritte beim Klimaschutzbericht
(1) Warum Fridays nicht mehr reicht