Der Klimacamp-Blog (57): Orchideen und die Klimakrise

Haben Sie eine Orchidee in ihrem Wohnzimmer stehen? Wenn ja, beherbergen Sie eine Pflanze, deren Überleben stark gefährdet ist. Denn ihr Überleben wie das vieler anderer ihrer Artgenoss:innen hängt unmittelbar mit der Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze zusammen.

Die tropischen Orchideen leben unter anderem im Amazonasregenwald, dem größten zusammenhängenden Regenwald der Erde. Ökosysteme sind grundsätzlich hervorragend an ihre Rahmenbedingungen (beispielsweise Niederschlag, Temperatur, Beschaffenheit des Bodens, etc.) angepasst. Zu diesen Rahmenbedingungen gehören im tropischen Regenwald beispielsweise neben einem Mangel an Mineralstoffen viel Sonnenenergie (warme Temperaturen) und große Niederschlagsmengen.

Ändert sich etwas an einem dieser Faktoren, funktioniert das ganze System nicht mehr. Genau das aber zeichnet sich aktuell ab: Durch die Rodung und die Klimakrise nehmen die Niederschläge ab. Diese sind allerdings elementar wichtig für das Leben im Amazonasregenwald.

Exkurs: Alle Lebewesen benötigen Mineralstoffe, diese sind im Amazonasregenwald allerdings äußerst rar. Daher müssen sich die Lebewesen stark spezialisieren, es entsteht also eine große Artenvielfalt, diese entspricht eine Vielfalt der organischen Verbindungen. Damit die Pflanzen diese Vielfalt der organischen Verbindungen bilden können, benötigen sie viel Sonnenenergie für die Fotosynthese. Dieser Energieüberschuss ist am Äquator vorhanden, quasi als Ausgleich werden daher aber die großen Niederschlagsmengen zur Kühlung benötigt, da sonst zu hohe Temperaturen entstehen würden.

Warum ist der Amazonasregenwald ein Kipp-Punkt?

Die Menge der Niederschläge ist also unverzichtbar für das Funktionieren des Ökosystems. Allerdings gilt für rund drei Viertel der Niederschläge das Prinzip: Es regnet, weil dort Wald ist und dort ist Wald, weil es regnet. Grundsätzlich gelangt das Wasser vom Atlantik über Passatwinde in das Amazonasgebiet, aber dort wird es bis zu sechs Mal quasi vom Wald selbst recycelt. Das abgeregnete Wasser wird von den Bäumen in ihr Blattwerk transportiert, verdunstet dort wieder und regnet ein Stück weiter in Windrichtung wieder ab.

Wird ein Waldabschnitt durch Rodung oder Dürre aufgrund der Klimaerwärmung zerstört, funktioniert das nicht mehr. Das nächste Waldstück wird dann ebenfalls austrocknen. Daher breitet sich die Zerstörung des Amazonasregenwalds über das Maß der menschlichen Zerstörung weiter aus (siehe Grafik).

Schematische Darstellung der Kaskadeneffekte im Vegetation-Niederschlags-System

Daher ist der Amazonasregenwald auch ein Kipp-Punkt im Weltklimasystem. Wahrscheinlich wird sich ab einem gewissen Grad nahezu der ganze Amazonasregenwald durch den oben beschriebenen Mechanismus selbst zerstören. Wann dieser Punkt exakt erreicht ist, ist noch nicht abschließend geklärt.

Diesen März wurde eine Studie zur Resilienz des Amazonasregenwalds veröffentlicht. Mitautor Niklas Boers zieht daraus folgendes Fazit: „Wann ein solcher möglicher Übergang (von Regenwald zur Savanne, d. Red.) stattfinden könnte, können wir nicht sagen. Wenn er zu beobachten ist, wäre es wahrscheinlich zu spät, ihn aufzuhalten.“ Dieses Szenario könnte also jederzeit eintreten.

Welche Auswirkungen hätte ein Überschreiten dieses Kipp-Punkts?

Kurz gesagt hätte dies katastrophale Auswirkungen auf das Klima und die Biodiversität. Denn der Amazonasregenwald ist das artenreichste Ökosystem der Erde – und dazu noch das mit dem meisten unwiederbringlichen Kohlenstoff.

Exkurs: Unwiederbringlicher Kohlenstoff meint Kohlenstoffspeicher in Ökosystemen (siehe Grafik), die so groß sind, dass sie beim Freiwerden als CO2 nicht rechtzeitig wiederhergestellt werden könnten, sodass sich ihre Zerstörung gravierend auf die Erderhitzung auswirken würde. Diese Ökosysteme wurden in einer Studie von Conservation International beschrieben, welche im November letzten Jahres veröffentlicht wurde.

Kohlestoffspeicher im Welt-Ökosystem

Konkret bedeutet das, dass bei der Zerstörung des Amazonasregenwalds bis zu 115,6 Gigatonnen CO2 frei werden könnten. Das ist mehr als ein Drittel des globalen CO2-Budgets, das mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit noch genutzt werden darf, wenn man die 1,5-Grad-Grenze nicht reißen will. Heißt konkret, dass es bei einer globalen Erwärmung um 1,5 Grad vermutlich nicht bleiben wird! Oder um es in den Worten von Johan Rockström, dem Co-Direktor des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung zu sagen: „Die Folgen der Freisetzung dieses gespeicherten Kohlenstoffs würden sich über Generationen erstrecken und unsere Chance, das Klima der Erde auf einem für die Natur und die Menschheit erträglichen Niveau zu stabilisieren, untergraben.“ Ähnlich düster sieht es bei der Biodiversitätskrise aus.

Exkurs: Aktuell befindet sich die Erde im sechsten Massenaussterben. Das letzte fand statt, als die Dinosaurier ausgestorben sind. Ursache für das jetzige Massenaussterben sind menschliche Aktivitäten, wie die großflächige Landnutzung und der Klimawandel. Dies hat dazu geführt, dass sich die natürliche Aussterberate verhundert- bis vertausendfacht hat. Beispielsweise sind in den letzten 100 Jahren so viele Vögel ausgestorben wie in den 3000 Jahren zuvor.

Der Artenverlust destabilisiert die Ökosysteme und damit auch die Lebensgrundlage der Menschen. Die Zerstörung der tropischen Regenwälder spielt bei der Biodiversitätskrise eine besondere Rolle, da diese Ökosysteme besonders artenreich sind. Werden sie zerstört, wird das Artensterben stärker beschleunigt als bei anderen Ökosystemen. So leben im Amazonasregenwald ca. ein Sechstel (16,67 Prozent) aller Vogelarten, obwohl der Amazonasregenwald nur etwa 3,5 Prozent der Landfläche beziehungsweise knapp über ein 1,03 Prozent der Gesamtfläche der Erde ausmacht.

Das Absterben des Amazonasregenwald (und der dort lebenden tropischen Orchideen) würde also vermutlich zur Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze führen; danach folgt durch verschiedene Rückkopplungen im Weltklimasystem eine Heißzeit. Kurz gesagt, die Zivilisation ist dann ganz schön schlecht dran. Parallel dazu drohen die Ökosysteme (= unsere Lebensgrundlage) auf Grund des sechsten Massensterbens zu kollabieren. Auch dies hat das Potenzial, unsere Zivilisation zu zerstören. Der Schutz des Amazonasregenwalds ist also für den Fortbestand unserer Zivilisation von höchster Bedeutung.

Gerechtigkeitsaspekt der Problematik

Zunächst würde ein Überschreiten der 1,5 Grad die Menschen im globalen Süden am schlimmsten und schnellsten treffen. Daher hat der globale Norden (als Hauptverursacher) die Pflicht, die Grenze einzuhalten. Außerdem hat die Zerstörung des Amazonasgebiets sehr konkret katastrophale Folgen für die dort lebende indigene Bevölkerung. Diese verdient nach jahrhundertelanger kolonialer Unterdrückung ebenfalls internationale Unterstützung bei ihrem Kamp um den Erhalt des Regenwald. Diese Aspekte sind sehr klar, obwohl sie leider bisher in der internationalen Politik kaum beachtet werden.

Komplizierter ist folgender Aspekt: Die geopolitische Zuständigkeit für den Amazonasregenwald muss geklärt werden. Das führt zu der Frage, inwieweit die südamerikanischen Länder globale Unterstützung etwa in Form einer finanziellen Entschädigung für den Schutz der Amazonasregion erhalten sollten.

Denn bleibt der Regenwald bestehen, verzichten die dort liegenden Staaten auf kurzfristigen Reichtum – durch die Landnutzung und die Gewinnung dortiger Bodenschätze. Das erscheint nicht gerecht, denn die kolonialistisch agierenden Länder des globalen Nordens haben ihren heutigen Reichtum auch auf der Ausbeutung der Natur aufgebaut. Wird der Amazonasregenwald hingegen abgeholzt, gefährdet das alle. Hier muss es also in irgendeiner Form internationale Abkommen und finanzielle Ausgleichszahlungen an die Länder des Amazonasregenwalds geben

Wenn Sie also das nächste Mal eine Orchidee im Wohnzimmer sehen, dann erinnern Sie sich vielleicht daran, wie wichtig der Einsatz für den Schutz des Amazonasregenwalds ist. Dann wäre es großartig, wenn Sie die Informationen über die Dramatik des Problems teilen und sich politisch für den Schutz des Amazonasregenwalds einsetzen würden! Vielen Dank!

Text: Frida Mühlhoff von der Konstanzer Klimacamp-Redaktion
Illustrationen: Orchideen-Bild: pixabay / Grafik 1 „
Schematic representation of cascading effects in the vegetation-rainfall system“: https://www.nature.com/articles/ncomms14681 / Grafik 2 „Irrecoverable carbon in Earth’s ecosystems“: https://www.nature.com/articles/s41893-021-00803-6#article-info

Lützi-Mahnwache am Samstag!
Seit Jahren ist klar: Wir müssen klimaneutral werden, und um das zu erreichen, müssen wir schnellstmöglich aus den fossilen Brennstoffen aussteigen. Das ist notwendig, um die 1.5-Grad-Grenze noch einzuhalten und die Pariser Klimaziele zu erreichen. Nur so können noch katastrophalere Folgen der Klimakrise verhindert werden. Doch statt die Energiewende voranzubringen, ermöglicht die Politik Konzernen wie RWE, immer größere Landstriche für die Kohleförderung zu verwüsten.
Nun will RWE in Nordrhein-Westfalen das Dorf Lützerath abreißen, um den Tagebau Garzweiler zu erweitern. Damit, dass die aktuelle Bundesregierung und die Landesregierung von NRW diese kapitalistische Zerstörungswut ermöglichen, verabschieden sie sich zum wiederholten Male von den 1.5 Grad. Wir solidarisieren uns mit den Tausenden Aktivisti, die am Samstag, den 23. April, in Lützerath gegen die Kohleverstromung demonstrieren.
Deshalb rufen wir zu einer Mahnwache auf – am Samstag, den 23. April, 18 Uhr, in der Hofhalde, vor den Büros der MdBs Jurisch (FDP) und Jung (CDU).

Der Klimacamp-Blog wird von Aktivist:innen des Konstanzer Camps verfasst. Sie entscheiden autonom über die Beiträge. Bisher sind auf seemoz.de erschienen:

(56) Wer ist „wir“?
(55) Aufstand der letzten Generation – auch in Konstanz
(54) Klimadebatte in Konstanz: Fakten oder Meinung?
(53) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil II
(52) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil I
(51) Rückblick auf den globalen Klimastreik, Teil II
(50) Rückblick auf den globalen Klimastreik, Teil I
(49) Frieden, Gerechtigkeit und die Klimakrise
(48) Ein Gedicht zum Klimastreik
(47) Hoffnung!
(46) Raus aus dem Anti-Klimavertrag!
(45) Vorbereiten auf den 25. März
(44) Friedensprojekt Energiewende
(43) Was ist rechtens? Und was richtig?
(42) Die Planetare Grenze für Chemikalien ist überschritten
(41) Energiecharta – der schmutzige Vertrag
(40) 200 Tage Klimacamp
(39) Dies ist ein Notfall. Das ist ein Aufstand
(38) Grünes Wachstum? Weniger ist mehr!
(37) Die Sache mit dem grünen Wachstum
(36) Dreimal das erste Mal
(35) Auch der Bürgermeister zweifelt
(34) Wenn der Frühling im Januar beginnt
(33) Aufstand der letzten Generation
(32) Planetare Grenzen
(31) Über die Notwendigkeit von Klimagerechtigkeit
(30) Warum nicht in aller Munde?
(29) Tag 134 – und weiter geht’s!
(28) Was wir jetzt am dringendsten brauchen
(27) Es gibt kein Weihnachten auf einem toten Planeten
(26) Wenn alles kippt
(25) Besuch im Camp
(24) Ein Konstanzer Traum
(23) Mit der geplanten Erdgas-Pipeline zurück ins fossile Mittelalter
(22) Die Kirche und das Camp
(21) Winter im Camp – wir brauchen Unterstützung!
(20) Die Konstanzer Klimaschutzstrategie
(19) Diese Woche? Klimawoche!
(18) Hambi 2.0 – der Kampf um Lützerath
(17) Hundert Tage – Party oder Trauerfeier?
(16) Was passiert, wenn wir die 1,5 Grad-Grenze überschreiten?
(15) Ein Plädoyer für Offenheit
(14) Was kostet Anwohnerparken?
(13) Wie, Konstanz, hältst du’s mit dem Gas?
(12) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 2)
(11) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 1)
(10) Eine Nacht im Klimacamp
(9) Sind individuelle Lösungen ein wirksames Mittel? Eine Gegenüberstellung
(8) Ein Tag im Camp
(7) Demo- und Wahlrückblick
(6) Nach der Wahl: Das muss jetzt passieren
(5) Zwischen Verzweiflung und Hoffnung
(4) Klimastreik vor der Wahl
(3) Eine lange Radtour
(2) Kaum Fortschritte beim Klimaschutzbericht
(1) Warum Fridays nicht mehr reicht