Der Klimacamp-Blog (79): Gefährliche Eingriffe?
Immer wieder kommt es – vor allem in Berlin – zu Straßenblockaden der Gruppe „Letzte Generation“. Und wie es sich für ein Autoland gehört, hagelt es bei jedem kleinen Eingriff in den Straßenverkehr Proteste. Solche „Straftaten“ würden „Menschenleben gefährden“, heißt es dann. Aber stimmt das wirklich?
Seit der letzten Blockadewelle diesen Sommer in Berlin sind nun zwar auch schon wieder ein paar Wochen ins Land gezogen, doch die nächste Aktionswelle steht vor der Tür und es gibt Dinge, die – finde ich – unbedingt kommentiert werden müssen.
Heute soll es um einen Vorfall diesen Juni gehen: Während Bürger:innen mit der Letzten Generation das Frankfurter Tor in Berlin blockierten, um auf den dringenden Handlungsbedarf in Sachen Umwelt- und Klimaschutz aufmerksam zu machen, sendete die grüne Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Clara Herrmann, ein Zeichen der Solidarität mit den Protestierenden.
Sie twitterte: „Klimaaktivist*innen blockieren das Frankfurter Tor. Solidarität mit den Forderungen: ja wir brauchen #klimaschutz jetzt! Situation vor Ort ist entspannt. Danke @polizeiberlin#xhain“
Eine mutige und sehr richtige Reaktion, wie ich finde. Und unschätzbar wichtig. Jede soziale Bewegung braucht Unterstützung und je mehr Macht und Ansehen die entsprechende Person oder Organisation hat, desto besser. Es geht immerhin um die vermutlich größte Katastrophe seit Beginn der Menschheit.
Auf der „falschen Seite des Gesetzes“?
Frank Balzer, innenpolitischer Sprecher, und Kurt Wansner, Mitglied des Innenausschusses und Wahlkreisabgeordneter aus Friedrichshain-Kreuzberg der CDU-Fraktion Berlin, sehen das aber scheinbar ein wenig anders. Sie erklärten dazu: „Der Solidaritätsbesuch von Grünen-Bezirksbürgermeisterin Herrmann bei Straßenblockierern am Frankfurter Tor war falsch und kontraproduktiv. Es geht hier um den gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr, der Menschenleben gefährdet. Wer solche Straftaten indirekt gutheißt, steht auf der falschen Seite des Gesetzes.“
Aber war das so? Handelte es sich bei den Blockaden tatsächlich um „einen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr“? Eine solche Einschätzung geben die Aktionen der Letzten Generation meiner Meinung nach nicht so ganz her. Klar ist Recht immer auch ein Stück weit Auslegungssache, aber: Meines Wissens nach braucht es dazu einen Eingriff in den fließenden Verkehr und einen dadurch verursachten Unfall oder Beinaheunfall.
Bei Blockadeaktionen der Letzten Generation wird jedoch nur bereits stehender Verkehr (zum Beispiel an roten Ampeln) blockiert. Und klar kursieren immer wieder Videos und Gerüchte, wir würden Menschenleben gefährden, indem wir Rettungswagen blockierten und dergleichen.
Nichthandeln ist die wirkliche Gefahr
Aber: Selbst wenn Leute sich festkleben, dann nie in der Mitte der Straße. Zudem werden mit Beginn der Blockaden die Rettungsleitstellen informiert, damit die Fahrzeuge von vornherein auf andere Straßen ausweichen können. Klar, es gab und wird wahrscheinlich leider wieder Zwischenfälle geben, bei denen Rettungswagen im Stau stehen. Aber das liegt weniger an der Blockade an sich als vielmehr an der Tatsache, dass keine Rettungsgassen gebildet werden. Eigentlich durchaus ein Grund sich aufzuregen. Nur dass dieser Sachverhalt bei „normalen“ Staus bei weitem nicht so viel Aufsehen erregt.
[the_ad id=“87862″]Ein interner Chat von Letzte Generation bringt die Problematik ganz gut auf den Punkt: „Grundsätzlich gilt: Egal ob Blockade, Baustelle oder Unfall, Rettungsgassen werden nur selten gebildet. Nur bei unseren Blockaden kommen die mit Ausreden. Sonst wird das nie Thema in den Medien.“ Oder anders formuliert und auf die große Bedrohung unserer aller Sicherheit bezogen: Das Nichthandeln der Regierung ist die wirkliche Gefahr – und wir blockieren und stören, um die todbringende Gefahr des Klimakollapses abzuwenden.
Und zum Argument, dass „auf der falschen Seite des Gesetzes“ stehe, wer „solche Straftaten indirekt“ gutheiße, muss ich sagen, dass ich in diesem Fall gerne und aus voller Überzeugung dort stehe. Denn ich kann und werde nicht einfach zusehen, wie wir diese Erde direkt in das Klima-Szenario „unlivable World“ zusteuern.
Allerdings meine ich mich zu entsinnen, dass im Grundgesetz steht: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung* zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
* Gemeint ist die Ordnung der parlamentarischen Demokratie, des sozialen und föderalen Rechtsstaats, die in Artikel 20 Absatz 1 bis 3 genannt werden.
Text: Eileen Blum von der Konstanzer Klimacamp-Redaktion
Fotos (von der im Text erwähnten Aktion am Frankfurter Tor, Berlin): Website der Gruppe Letzte Generation
Die Klimacamp-Blogs werden von Aktivist:innen des Konstanzer Camps verfasst. Sie entscheiden autonom über die Beiträge. Bisher sind auf seemoz.de erschienen:
(78) Die Hoffnung stirbt, die Aktion beginnt
(77) Harakiri oder Amoklauf?
(76) Mehr Gas beim Klimaschutz, weniger in der Leitung
(75) Motorboot fährt Klima tot
(74) Es geht weiter!
(73) (K)ein Grund zu feiern
(72) Ein Jahr Klimacamp
(71) Große Hektik, wenig Zukunft
(70) Klimaschutz als kommunale Pflichtaufgabe?
(69) Warm- oder Kaltbaden? Ein Dilemma
(68) Der klimaneutrale Weinhändler
(67) Was der Deutschlandfunk berichtet
(66) Weniger ist mehr
(65) Können Klimabewegungen und Gewerkschaften zusammen Ziele erreichen?
(64) Zwei Stunden pro Woche für das Camp!
(63) Was will die „letzte Generation“?
(62) CETA oder Klima
(61) Klima-Bahn oder Betonbahn?
(60) Gasausstieg in Konstanz – ein Übersichtsartikel
(59) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil III
(58) Atomstrom ist keine Lösung
(57) Orchideen und die Klimakrise
(56) Wer ist „wir“?
(55) Aufstand der letzten Generation – auch in Konstanz
(54) Klimadebatte in Konstanz: Fakten oder Meinung?
(53) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil II
(52) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil I
(51) Rückblick auf den globalen Klimastreik, Teil II
(50) Rückblick auf den globalen Klimastreik, Teil I
(49) Frieden, Gerechtigkeit und die Klimakrise
(48) Ein Gedicht zum Klimastreik
(47) Hoffnung!
(46) Raus aus dem Anti-Klimavertrag!
(45) Vorbereiten auf den 25. März
(44) Friedensprojekt Energiewende
(43) Was ist rechtens? Und was richtig?
(42) Die Planetare Grenze für Chemikalien ist überschritten
(41) Energiecharta – der schmutzige Vertrag
(40) 200 Tage Klimacamp
(39) Dies ist ein Notfall. Das ist ein Aufstand
(38) Grünes Wachstum? Weniger ist mehr!
(37) Die Sache mit dem grünen Wachstum
(36) Dreimal das erste Mal
(35) Auch der Bürgermeister zweifelt
(34) Wenn der Frühling im Januar beginnt
(33) Aufstand der letzten Generation
(32) Planetare Grenzen
(31) Über die Notwendigkeit von Klimagerechtigkeit
(30) Warum nicht in aller Munde?
(29) Tag 134 – und weiter geht’s!
(28) Was wir jetzt am dringendsten brauchen
(27) Es gibt kein Weihnachten auf einem toten Planeten
(26) Wenn alles kippt
(25) Besuch im Camp
(24) Ein Konstanzer Traum
(23) Mit der geplanten Erdgas-Pipeline zurück ins fossile Mittelalter
(22) Die Kirche und das Camp
(21) Winter im Camp – wir brauchen Unterstützung!
(20) Die Konstanzer Klimaschutzstrategie
(19) Diese Woche? Klimawoche!
(18) Hambi 2.0 – der Kampf um Lützerath
(17) Hundert Tage – Party oder Trauerfeier?
(16) Was passiert, wenn wir die 1,5 Grad-Grenze überschreiten?
(15) Ein Plädoyer für Offenheit
(14) Was kostet Anwohnerparken?
(13) Wie, Konstanz, hältst du’s mit dem Gas?
(12) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 2)
(11) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 1)
(10) Eine Nacht im Klimacamp
(9) Sind individuelle Lösungen ein wirksames Mittel? Eine Gegenüberstellung
(8) Ein Tag im Camp
(7) Demo- und Wahlrückblick
(6) Nach der Wahl: Das muss jetzt passieren
(5) Zwischen Verzweiflung und Hoffnung
(4) Klimastreik vor der Wahl
(3) Eine lange Radtour
(2) Kaum Fortschritte beim Klimaschutzbericht
(1) Warum Fridays nicht mehr reicht
Sehr geehrte Frau Blum,
das Blockieren von Straße ist eine Nötigung der betroffenen Verkehrsteilnehmer.
Das von Ihnen in Anspruch genommene Widerstandrecht nach GG trifft auf den hier vorliegenden Fall nicht zu. Es ist geradezu anmaßend, dass Sie dieses Widerstandsrecht, das vor dem Hintergrund der Erfahrung der NS-Herrschaft in das GG geschrieben wurde, für Ihre Zwecke in Anspruch nehmen.
mfg
peter krause