Klimacamp-Blog (71): Große Hektik, wenig Zukunft
Wir müssen Gas sparen, damit es durch den Winter reicht. Außerdem ist Getreide knapp. Diese Botschaften gehen gerade durch Deutschland. Gut also, dass nun Info-Kampagnen zum Energiesparen gestartet werden, denn jede:r kann hier kurzfristig und mit relativ geringem Aufwand viel für Energieeinsparung tun. Dumm nur, dass in der aktuellen Debatte jene Maßnahmen verschwiegen werden, die viele Probleme strukturell beheben könnten.
Beginnen wir erst mal mit etwas Klimabackground: Werden alle fossilen Quellen, also alle Erdgasfelder, Ölfelder, Kohlegruben etc. so betrieben wie geplant, dann werden wir das CO2Budget für 1,5 Grad um etwas mehr als das Zweifache überschreiten. Das ist schon mal recht bitter. Allein diese Rechnung macht klar, dass keine neuen fossilen Felder erschlossen werden dürfen, wenn die Menschheit das Ende des Jahrhunderts erleben will.
Nun ist die Lage auf dem Erdgasmarkt ja gerade etwas angespannt und Deutschland muss sich von russischem Erdgas wegorientieren. Kritiker:innen könnten jetzt sagen, wir hätten niemals so sehr auf Erdgas – noch dazu aus einem Land, das in der Vergangenheit immer wieder seine Machtstellung missbraucht hat – setzen dürfen; aber nun gut, jetzt sind wir hier. Kurzfristig ist die Lage wirklich sehr doof und kurzfristig brauchen wir zusätzliche Erdgasimporte und müssen allgemein Energie sparen. Wichtig an diesem Satz ist das Wort „kurzfristig“. Was passiert aber momentan?
Schneller als bei erneuerbaren Energien
Zum einen hat der Bundestag bereits vor einigen Wochen das LNG-Beschleunigungsgesetz beschlossen. Jetzt dürfen Terminals für Flüssiggas (LNG) ohne jegliche Umweltprüfung gebaut werden, weil das ja so wichtig ist für die Versorgungssicherheit. Interessant hierbei: Erneuerbare-Energien-Anlagen dürfen, aus meiner Sicht zu recht, nicht ohne Umweltprüfung gebaut werden. Leider gibt es aber, aus meiner Sicht zu unrecht, aufgeblähte Verfahren, die beispielsweise den Bau eines Windrads von unter eineinhalb Jahren Bau- und Planungszeit auf über vier Jahre verlängern.
Im Gegensatz zu Erneuerbaren Energien sind neue LNG-Terminals anscheinend wichtiger für die Versorgungssicherheit. In den nächsten fünf Jahren sollen bis zu zwölf neue Terminals entstehen. Ob alle gebaut werden, ist noch etwas unklar, die Deutsche Umwelthilfe erwartet in einer Modellrechnung etwas konservativ, dass sieben davon gebaut werden, und kommt zu dem Ergebnis, dass diese bei konservativen Laufzeiten 2,1 Milliarden Tonnen CO2 ausstoßen. Das entspricht drei Vierteln des deutschen CO2-Budgets.
LNG-Laufzeit bis 2051?
Drei dieser sieben Anlagen sollen fest an Land installiert sein, während die anderen vier schwimmen – im Grunde große Schiffe, die andocken können und das verflüssigte Erdgas wieder verdampfen. Im Gegensatz zu den Beteuerungen aus Politik, dass diese Terminals bei einem Wegfall russischer Lieferungen absolut essentiell seien, steht die Aussage der Leiterin der Energieabteilung des deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Claudia Kemfert. Diese wiederholt fast gebetsmühlenartig: „Wir brauchen definitiv keine festen Flüssiggas-Terminals, die uns über 25 Jahre an fossile Gas-Lieferanten binden.”
25 Jahre? Die Bundesnetzagentur hat gerade für einen entstehenden Terminal in Stade die Freistellung von Regulierungen für 25 Jahre erteilt. Beginn 2026, Ende 2051. 2051? Müssen wir nicht 2035 klimaneutral sein und hat die Bundesregierung nicht das viel zu späte Ziel, bis 2045 klimaneutral zu sein?
Große Rückschritte
Zudem bereisen Robert Habeck und Olaf Scholz momentan die Welt, um die neu entstehenden Speicherkapazitäten befüllt zu bekommen: Katar, Senegal, USA, Kanada und so weiter. Ein verständlicher Reflex, doch geht es hierbei meist um den Aufbau neuer Kapazitäten. Senegal etwa will nun, womöglich mit deutschen Finanzhilfen, neue Gasfelder erschließen und die Produktion dann ab Herbst 2023 schrittweise bis 2030 steigern.
Moment, – 2030? Müssten wir da nicht unseren Erdgasverbrauch ohnehin schon auf nahe Null reduziert haben, um angemessene Klimaziele zu erreichen? Katar will neue Erdgasfelder erschließen, die ab 2026 Erdgas liefern. Das sind ja haufenweise neue Erdgasfelder – dabei überschießen wir mit den vorhandenen Kapazitäten bereits die 1,5-Grad-Grenze um ein Vielfaches. Dazu passt die Ankündigung der G7-Länder, unter Umständen Erdgaserschließungen im Ausland zu fördern. Ein großer Rückschritt in der internationalen Klimapolitik.
Inkonsequente Politik
Dass wir viel zu sehr auf Erdgas gesetzt haben – diese Lehre, die vor kurzem noch breit getreten wurde – ist schon wieder vergessen. „Freiheitsenergien“ nannte Christian Lindner (FDP) noch vor wenigen Monaten die Erneuerbaren Energien. Aber im Ringen um die zukünftige Energieversorgung scheinen fossile Energien wieder einmal zu gewinnen. Beziehen wir unsere Freiheit demnächst also aus fossilem Erdgas aus Katar? Dem Land, das wegen Sklavenhaltung in der Kritik steht? Das hat schon einen makabren Charakter.
Inkonsequent ist noch mehr. Noch im Januar beschloss die EU-Kommission, Erdgas als nachhaltig einzustufen. Wie nachhaltig das ist, können alle gerade live beobachten. Trotzdem hat die Kommission ihren Vorschlag nicht widerrufen.
Die Bundesregierung wiederum fördert noch immer gasbetriebene Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen, die durch Gasverbrennung sowohl Strom und Wärme erzeugen. Das sei umweltfreundlich, argumentiert sie. Überhaupt sind Gasheizungen noch immer nicht verboten. Wie viele Menschen bauen derzeit eigentlich noch neue Gasheizungen ein? Dazu habe ich leider keine aktuellen Zahlen gefunden, doch noch letztes Jahr, als die Gaspreise bereits anstiegen, wurden laut Bundesverband der deutschen Heizenergie mehr Gasheizungen verkauft als jemals zuvor; fast 70 Prozent aller Haushalte heizen mit Gas.
Wo bleibt die Agrarwende?
Nehmen wir ein anderes Beispiel: Anorganische Düngemittel werden aus Erdgas hergestellt. So produziert das von Yara in Brunsbüttel angesiedelte Werk rund 0,5 Prozent des weltweit verwendeten Düngers und verbraucht dazu etwa ein Prozent des deutschen Erdgases.
Gleichzeitig erleben wir ein weltweites Massensterben, mit verursacht durch die massive Überdüngung der Landwirtschaft. Warum wird nicht endlich eine Agrarwende eingeleitet, denn das wäre jetzt eine Win-win-Situation? Das Faszinierende ist: Das Gegenteil ist der Fall. Die weltweite Nahrungsmittelknappheit wird benutzt als Vorwand, gegen die ohnehin viel zu lax betriebene Agrarwende vorzugehen. Begründung: Wir haben zu wenig Lebensmittel.
Das bringt uns zum nächsten Thema – dem Hunger. In Deutschland wird mehr als die Hälfte des Getreides an Tiere verfüttert. EU-weit sind das übrigens fast viermal so viel, wie die Ukraine an Getreide exportiert. Fast 10 Prozent werden zu Sprit verarbeitet; nur etwa 20 Prozent des Getreides werden gegessen. Sollten wir jetzt nicht solidarisch mit Hungernden auf der Welt unseren Fleischkonsum reduzieren, um wertvolle Lebensmittel sinnvoller zu nutzen? Vom Landwirtschaftsminister Cem Özdemir hört man zwar Wünsche und auch ein paar Appelle, aber mehr auch nicht. Gehört es nicht auch zur Politik, dass Minister Regeln und Gesetze verabschieden? Zum Beispiel die Mehrwertsteuer auf Fleisch vom 7 auf 19 Prozent zu erhöhen und dafür auf Grundnahrungsmittel zu streichen?
Unfähig zu einfachsten Maßnahmen
Neben dem Fakt, dass wir fast unser gesamtes Getreide an Tiere verfüttern, schmeißen wir in Deutschland 12 Millionen Tonnen an Lebensmitteln jedes Jahr weg. Mit den weltweit weggeworfenen Lebensmitteln könnten 2 Milliarden Menschen ernährt werden. Aber wird die momentane Situation genutzt, um gegen Lebensmittelverschwendung vorzugehen? Nicht einmal die einfachsten No-Brainer-Maßnahmen werden umgesetzt. Wer weggeschmissene Lebensmittel „klaut“, riskiert immer noch empfindliche Strafen.
Stattdessen kommen sieben der reichsten Länder der Welt zusammen, um gemeinsam gegen den Hunger zu labern: Sie wollen bis zu 4,5 Milliarden US-Dollar für die Ernährungssicherheit geben, dabei wären laut Hilfswerk Oxfam mindestens 33 Milliarden nötig.
Faszinierend an dieser Geschichte ist auch, dass selbst ohne eine Ernährungsumstellung momentan niemand hungern müsste: Armen Ländern mangelt es momentan einfach nur an Geld für den Nahrungsmittelerwerb. Sie bräuchten nicht einmal viel: 0,2 Prozent des Reichtums der Milliardär:innen oder 0,6 Prozent der weltweiten fossilen Subventionen oder 3 Prozent des US-amerikanischen Militärhaushaltes würden ausreichen, um den Geldmangel zu beseitigen und niemanden hungern zu lassen.
Wir erleben momentan bilderbuchhaft, wie entweder viele Krisen gleichzeitig gelöst werden könnten. Oder wie alle Krisen gemeinsam die Lage weiter verschlechtern. Nicht erstaunlich, aber trotzdem schade, dass sich die Mächtigen der Welt für das gemeinsame Verschlechtern entscheiden. Mit so einer Politik wird die Zukunft ganz schön heiß – sowohl durch die Klimakrise als auch durch all die Kriege, die wir durch die Kombination an Reichtumskonzentration und ökologischem Zusammenbruch erleben werden.
Damit dieser Artikel nicht ganz so negativ endet, hier noch eine positive Meldung aus dem Statistischen Bundesamt: „Trotz der schwierigen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen ist die deutsche Wirtschaft mit einem leichten Wachstum in das Jahr 2022 gestartet.”
Ist er nicht toll, dieser Kapitalismus?
Text: Manuel Oestringer von der Konstanzer Klimacamp-Redaktion
Bild (LNG-Terminal Yokohama, Japan): Wikimedia Commons CC BY 3.0
Grafiken: von der Klimacamp-Redaktion zur Verfügung gestellt
Der Klimacamp-Blog wird von Aktivist:innen des Konstanzer Camps verfasst. Sie entscheiden autonom über die Beiträge. Bisher sind auf seemoz.de erschienen:
(70) Klimaschutz als kommunale Pflichtaufgabe?
(69) Warm- oder Kaltbaden? Ein Dilemma
(68) Der klimaneutrale Weinhändler
(67) Was der Deutschlandfunk berichtet
(66) Weniger ist mehr
(65) Können Klimabewegungen und Gewerkschaften zusammen Ziele erreichen?
(64) Zwei Stunden pro Woche für das Camp!
(63) Was will die „letzte Generation“?
(62) CETA oder Klima
(61) Klima-Bahn oder Betonbahn?
(60) Gasausstieg in Konstanz – ein Übersichtsartikel
(59) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil III
(58) Atomstrom ist keine Lösung
(57) Orchideen und die Klimakrise
(56) Wer ist „wir“?
(55) Aufstand der letzten Generation – auch in Konstanz
(54) Klimadebatte in Konstanz: Fakten oder Meinung?
(53) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil II
(52) Ausstieg aus dem Wirtschaftswachstum, Teil I
(51) Rückblick auf den globalen Klimastreik, Teil II
(50) Rückblick auf den globalen Klimastreik, Teil I
(49) Frieden, Gerechtigkeit und die Klimakrise
(48) Ein Gedicht zum Klimastreik
(47) Hoffnung!
(46) Raus aus dem Anti-Klimavertrag!
(45) Vorbereiten auf den 25. März
(44) Friedensprojekt Energiewende
(43) Was ist rechtens? Und was richtig?
(42) Die Planetare Grenze für Chemikalien ist überschritten
(41) Energiecharta – der schmutzige Vertrag
(40) 200 Tage Klimacamp
(39) Dies ist ein Notfall. Das ist ein Aufstand
(38) Grünes Wachstum? Weniger ist mehr!
(37) Die Sache mit dem grünen Wachstum
(36) Dreimal das erste Mal
(35) Auch der Bürgermeister zweifelt
(34) Wenn der Frühling im Januar beginnt
(33) Aufstand der letzten Generation
(32) Planetare Grenzen
(31) Über die Notwendigkeit von Klimagerechtigkeit
(30) Warum nicht in aller Munde?
(29) Tag 134 – und weiter geht’s!
(28) Was wir jetzt am dringendsten brauchen
(27) Es gibt kein Weihnachten auf einem toten Planeten
(26) Wenn alles kippt
(25) Besuch im Camp
(24) Ein Konstanzer Traum
(23) Mit der geplanten Erdgas-Pipeline zurück ins fossile Mittelalter
(22) Die Kirche und das Camp
(21) Winter im Camp – wir brauchen Unterstützung!
(20) Die Konstanzer Klimaschutzstrategie
(19) Diese Woche? Klimawoche!
(18) Hambi 2.0 – der Kampf um Lützerath
(17) Hundert Tage – Party oder Trauerfeier?
(16) Was passiert, wenn wir die 1,5 Grad-Grenze überschreiten?
(15) Ein Plädoyer für Offenheit
(14) Was kostet Anwohnerparken?
(13) Wie, Konstanz, hältst du’s mit dem Gas?
(12) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 2)
(11) Der Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem (Teil 1)
(10) Eine Nacht im Klimacamp
(9) Sind individuelle Lösungen ein wirksames Mittel? Eine Gegenüberstellung
(8) Ein Tag im Camp
(7) Demo- und Wahlrückblick
(6) Nach der Wahl: Das muss jetzt passieren
(5) Zwischen Verzweiflung und Hoffnung
(4) Klimastreik vor der Wahl
(3) Eine lange Radtour
(2) Kaum Fortschritte beim Klimaschutzbericht
(1) Warum Fridays nicht mehr reicht